Schreiben, Wirkung, Rechtschreibung, Autor

Wann Sie den Duden weglegen sollten

Ja, ja, ich kann es mir bereits denken: Sie haben wahrscheinlich schon lange keinen Duden mehr auf dem Schreibtisch stehen. Er fristet bestenfalls noch sein Dasein in Ihrem Bücherregal – aber in der Hand hatten Sie das arme Ding schon lange nicht mehr. 

Dafür haben Sie ja das ausgefeilte Rechtschreibprogramm auf Ihrem Rechner installiert, nicht wahr? Das ist sehr praktisch. Sie müssen sich gar nicht mehr selbst bemühen: Das Programm blättert von sich aus für Sie nach, wo zum Beispiel bei dem Wort Rhythmus die „h“s hingehören. Es macht Ihnen vielleicht darüber hinaus auch schon Vorschläge, wie das Wort, das Sie angefangen haben zu tippen, vollständig heißen sollte. Sie brauchen nur noch zuzustimmen. Das macht Ihnen das Leben leichter. Doch macht es Ihre Texte auch wirkungsvoller?

Vielleicht nicht, aber Ihr Computer wird ja bald noch mehr können …

Paradiesische Zustände

Sicher wird Ihnen das Programm demnächst ganze Sätze vorschlagen, wenn Sie nur das erste Wort geschrieben haben – KI sei Dank. Das klingt für manch einen, der sich mit dem Texten quält, geradezu paradiesisch. Sie könnten sich so viel Zeit sparen, wenn diese nervige Formuliererei wegfällt. Ein Wort schreibt sich so viel schneller als ein Satz. Super!

Ich traue den zukünftigen Algorithmen (Achtung nächste Rechtschreibfalle: Wo gehören hier die „h“s hin?) der KI tatsächlich einiges zu, wenn es darum geht, Informationen zu vermitteln. Wenn Sie also bald schon Gebrauchsanleitungen mit Hilfe solcher Algorithmen „verfassen“ wollen: Nur zu! 

Wenn Sie dagegen Texte brauchen, die bei Menschen eine Wirkung erzeugen, sollten Sie sich nicht auf die Maschine verlassen. Genauso wenig, wie Sie sich heute schon einzig und allein auf Ihr Rechtschreibprogramm verlassen sollten. Denn Wirkung erzeugen Sie nicht mit der Einhaltung von Regeln allein.

Überraschung!

Ein Text, der mit Rechtschreibfehlern gespickt ist, erzeugt nur eine negative Wirkung: Ihr Leser hält Sie für schlampig oder inkompetent. Er legt oder klickt Ihren Text genervt weg. Um das zu verhindern, ist Ihr Duden oder Ihr Rechtschreibprogramm Gold wert. 

Nur: Wenn Sie eine negative Wirkung vermeiden, heißt das noch nicht, dass Sie eine positive erzeugen. Und das ist es, was ich meine, wenn ich Sie zur Un-Rechtschreibung aufrufe. Eine positive Wirkung erzielen Sie erst, wenn Sie an den richtigen Stellen gekonnt mit den Regeln spielen. Ihre Leser langweilen sich nämlich schnell. Wenn Sie nur und immer sklavisch allen Regeln folgen, dann wirkt Ihr Text korrekt – und sterbensöd.

Schon die alten Römer wussten: „Variatio delectat“, übersetzt: Abwechslung macht Freude.

Aufmerksamkeit erzielen Sie dann, wenn Sie Ihren Leser immer wieder überraschen. Das lässt sich gut an der kleinsten humoristischen Textform, dem Witz, ablesen: Die Pointe basiert immer darauf, dass der Erzähler eine Erwartung aufbaut und dann mit einer unerwarteten Wendung um die Ecke kommt. Das funktioniert nicht nur für Lacher: Mit Überraschung erzeugen Sie auch Spannung. Jede noch so kleine oder große Geschichte lebt nicht von ihrem geradlinigen Verlauf, sondern von den Verwicklungen.

Und auch für den Sachtext gilt: Ohne überraschende Abweichungen sinkt die Aufmerksamkeit Ihres Lesers rasch ab – und damit sein Interesse am Weiterlesen. 

Die Instrumente, die Ihnen für diese Überraschungen zur Verfügung stehen, sind natürlich ein Stück Genre-abhängig: Ein Sachtext ist kein Thriller. Sie können also weder einen James Bond noch einen Bösen auftreten lassen, um für Spannung zu sorgen. Im Sachtext tun es subtilere Mittel auch …

Un-Rechtschreibung

So können Sie zum Beispiel die Aufmerksamkeit Ihres Leser kitzeln, indem Sie mit eigenen Wortkreationen um die Ecke kommen. Dafür müssen Sie zwar standhaft sein und die rote Unterringelung auf Ihrem Bildschirm ignorieren, die Ihr Rechtschreibprogramm erzeugt. Doch es lohnt sich: Ihr Leser ist im positiven Sinne irritiert – so wie Sie vielleicht über die Überschrift dieses Blogs irritiert waren. Das macht neugierig. 

Und wenn Ihr Leser auch noch realisiert, dass Sie ganz absichtlich einen Regelbruch begangen haben, um ihm entweder eine Erkenntnis oder einen Spaß zu liefern, freut er sich. Von dieser Freude will er mehr. Er ist gespannt auf Ihre nächsten Sätze und liest weiter. 

Setzen Sie sich also von Zeit zu Zeit über die Regeln hinweg und geben Sie Ihren Texten die Würze, die Ihren Lesern schmeckt. Bei dem Erlernen der handwerklichen Regeln und gekonnten Brüche rund um Ihre Sachtexte unterstützen wir Sie gerne mit unseren Angeboten von Gorus Campus. Und Ihr Programm oder Ihr alter Duden darf sich ja trotzdem noch nützlich machen und Ihnen sagen, wo die „h“s im Rhythmus und im Algorithmus hingehören. 

Dann sind alle glücklich: der Duden, Sie und vor allem Ihr Leser!